Vor vielen Jahren lebte ein Holzpuppenschnitzer. Er hieß Wenzel und fertigte die natürlich aussehendsten Handpuppen und Marionetten. Man konnte sie für lebendig halten, so fein hatte Wenzel ihre Glieder und Gesichter gearbeitet. Die Puppenspieler kamen gern zu ihm, um seine Puppen zu kaufen, mache sogar von sehr weit entfernt.
Bis er so gut schnitzen konnte, hatte er viel lernen müssen. Schon als Junge fing er damit an. Sein Lehrmeister sagte immer wieder zu ihm: „Du musst darauf hören, was das Holz dir erzählt!“
Jahr für Jahr verstand Wenzel besser, was sein Meister damit meinte. Nicht das Handwerkszeug sollte er zuerst in die Hand nehmen, sondern das Holz. Jedes Stück war anders und das galt es zu erkennen.
In seiner Gesellenzeit war er weit herumgekommen. Bei etlichen Meistern der Puppenmacherzunft hatte er gearbeitet und bei jedem etwas dazugelernt. Sogar bei Musikinstrumentenmachern war er gewesen. Er war so geschickt bei der Arbeit, dass manche sagten: „Der kann mit seinen Händen einen Knoten ins Holz machen, wenn er will.“
Ebenso wie die Puppenspieler redete er mit den Puppen, und schon bald hatte er das Gefühl, dass diese ihm antworteten. Die Gespräche wurden zur festen Gewohnheit, und je besser er sein Handwerk verstand, desto früher redete er mit den unfertigen Figuren. Schließlich erkannte er in einem rohen Holzklotz schon das Gesicht, das daraus entstehen würde. Er befühlte das Holz und wärmte es mit seinen Händen. Er hielt es ins Licht und in den Schatten. Er sprach mit ihm und bekam Antwort. Während der gesamten Schnitzarbeiten wiederholte er dies.
„Ich bin helle, ich bin schnelle!“, sagte ihm ein Klotz aus Eschenholz.
„Willst du wohl ein Kasper werden?“, fragte Wenzel, „oder eine Marionette? Vielleicht ein Vogel?“
Dabei drehte er das Holz und besah es von allen Seiten.
„Von echter Esche kriegst du Dresche!“
„Aha, doch ein Kasper, dachte ich es mir doch gleich. Frech aber freundlich.“
So oder so ähnlich ging es bei Wenzel in der Werkstatt zu. Die Puppenspieler und ihre Zuschauer, besonders die Kinder, liebten seine lebendig aussehenden Puppen.
Eines Tages sah Wenzel bei einem Holzhändler einen Balken aus Ahorn. Der war so hoch wie er selbst und so dick wie sein Bein. Außerdem war er gerade gewachsen wie ein Besenstiel. Er nahm den Balken in beide Hände und befühlte ihn.
„Nimm mich mit und wage den Schnitt!“, flüsterte der Ahorn. Wenzel drehte das Holz und hielt es ans Licht, so wie er immer tat. Er hielt es zuerst dicht vor sein Auge und dann weiter weg. Er schnupperte daran und nahm den zarten Duft des frischen Ahorns wahr.
„Du bist wohl etwas Besonderes“, sagte er schließlich, „ich mag dich.“
„Des Meisters Stück, ich bringe dir Glück.“
Wenzel kaufte das Holz und nahm es mit in seine Werkstatt. Er setzte sich und nahm das lange Holz auf den Schoß. Er befühlte es und drehte es immer wieder. Erst als er das Holz flüstern hörte: „Rund werde ich und schlank, das gibt edlen Klang“, machte er sich behutsam ans Werk.
Er hobelte und knobelte, er schnitzte und ritzte, er bohrte und rohrte, er stach und brach, er rieb und trieb, er feilte und keilte ohne Pause. Er selbst wusste nicht, was er dort schuf. Nur das Holz selbst führte seine geschickten Hände.
„Außen glatt, innen hohl, das tönt wohl.“
Er aß nicht, er trank nicht und er schlief auch nicht. Immerfort waren seine Hände an dem Holz. Nach drei Tagen war er so erschöpft, dass sein Kopf vornüber sank und er an der Werkbank einschlief, die Hände mit seinem halbfertigen Kunstwerk rutschten auf seinen Schoß.
Als er nach ein paar Stunden wieder erwachte, betrachtete er sein Werk. Es war ein Rohr geworden mit kleinen Löchern hier und dort. Wenn dieses Holzrohr jetzt zu ihm sprach, so klang das wie ein Lied.
„Nun schärfe die Klinge und hör‘ wie ich singe!“
Mit jedem Handgriff, den Wenzel tat, klang das Rohr voller. Wirklich, es sprach nicht mehr, sondern sang. Noch einmal arbeitete der Meister drei Tage. Er polierte und mattierte, er justierte und hantierte, er putzte und stutzte. Dann endlich war er fertig.
Das Rohr wisperte ihm zu: „Das hast du gut getan, nun atme mich an!“
Stolz schaute er auf sein Werk, dann lächelte er, weil er sah, was er geschaffen hatte: „Du bist keine Puppe, sondern ein Musikinstrument!“
Vorsichtig blies er, wie das Rohr gewünscht hatte. Sobald sein Atem durch das Instrument strömte, begann es zu singen. Wenzel hörte Töne, wie er sie noch nie gehört hatte. Voll und satt wie eine schöne tiefe Männerstimme, dabei aber so glänzend und perlend wie eine Flöte.
Wenzel war tief beeindruckt. „Du musst ein Fagott sein. Ja, ich habe vor Jahren einmal bei einem Instrumentenmacher gearbeitet. Da habe ich so ein Instrument gesehen.“
Den ganzen Abend blies er und sein singendes Rohr spielte das fröhliche Lied der Marionettenschnitzer.
Am nächsten Tag kam Jan, der Puppenspieler, um seine Teufelspuppe reparieren zu lassen. Bei einem Kampf mit dem Kasper war ihr ein Teufelshorn abgebrochen.
Stolz zeigte Wenzel sein neues Musikinstrument vor: „Schau mal, Jan, das ist ein Fagott! Es spielt von ganz alleine, wenn ich es nur anblase“. Natürlich wollte Jan das sofort erleben. Wenzel blies also hinein, so dass es erklang. Der Puppenspieler war sprachlos, fast hätte er seinen Teufel fallen gelassen und dann wäre das andere Horn wohl auch noch abgebrochen.
So ging es fast jeden Tag, jeder Besucher lernte das Wunderding kennen.
Kinder und Nachbarn kamen zu Wenzel um es zu hören, und bald reisten sogar Instrumentenbauer zu ihm.
Antek, ein berühmter Puppenspieler aus dem Nachbarort, überredete Wenzel, mit ihm zu kommen.
„Alle Menschen bewundern dich und dein Fagott. Komm mit mir auf die Jahrmärkte! Wir ziehen durch das ganze Land. Vor jeder meiner Vorstellungen spielst du deine Wundermusik. Du wirst sehen, wir werden reich und berühmt.“
„Ja“, zögerte Wenzel, „aber nur im Sommer. Ich muss mich schließlich um meine Puppen kümmern.“
Nach einigem Hin- und Her willigte er ein.
Schon ein paar Tage später kamen sie auf dem Kirmesplatz in der Stadt an. Laute Musik dröhnte ihnen entgegen. Wie sollte er da mit seinem Fagott dagegen anspielen? Nachmittags wurde es ruhiger. Die Vorstellung in Anteks Puppentheater begann. Zu Beginn führte Wenzel sein Instrument vor. Die Zuhörer waren begeistert. Erst lauschten sie der seltsamen Musik, dann tanzten sie sogar dazu.
Zu den nächsten Vorstellungen kamen immer mehr Gäste, immer mehr. Das freute besonders Antek, der dies vorausgesehen hatte, und dessen Kasse sich jeden Tag gut füllte. Was Antek nicht geahnt hatte, war, dass viele Zuschauer nach der Eröffnungsmusik das Theaterzelt wieder verließen. Sie waren nur wegen des Mannes mit dem Fagott gekommen. Darüber war er sehr enttäuscht.
„Weißt Du was?“, sagte Wenzel eines Tages, „ich gehe wieder nach Hause in meine Puppenwerkstatt. Fahre du allein weiter!“
Er hatte nämlich gemerkt, was Antek fühlte. Traurig verabschiedeten sie sich voneinander.
Kaum war Wenzel ein paar Tage wieder zurück in seiner Werkstatt, wurde er nachts aufgeschreckt.
Ein heftiger Gestank nach Hühnermist verbreitete sich im Raum. Eine Kerze flackerte. Sie wurde gehalten von einer großen Gestalt mit Schlapphut. Ein dichter schwarzer Bart bedeckte das Gesicht. Wenzel war sofort klar, dass hier ein Räuber eingedrungen war.
„Wo ist nur das Ding?“, murmelte der Räuber vor sich hin und suchte den Raum ab.
„Hilfe!“, schrie Wenzel in seinem Schrecken und sofort kam Leben in die Werkstatt.
„Halt, im Namen des Gesetzes!“, kommandierte der Polizist und das Krokodil fauchte und klapperte mit dem großen Unterkiefer.
Die Gretel jammerte: „Oh, oh, oh, oh!“
Währenddessen suchte der Einbrecher weiter, er leuchtete mit der Kerze in jeden Winkel.
„Halt, im Namen des Gesetzes!“, rief der Polizist noch einmal, aber den stinkenden Räuber störte das nicht.
„Verschwinde, sonst schieße ich! Dies ist mein Land!“, drohte die Räuberpuppe und fuchtelte wild mit der Pistole. Sie glich dem Einbrecher bis aufs Haar.
Der Hund bellte und die Prinzessin schluchzte wie immer: „Kasper, rette mich! Rette mich!“
Der Räuber hatte das Fagott erblickt und wollte gerade seinen Arm danach ausstrecken.
Mitten in diesem Durcheinander sprangen der Seppel, Fiete Appelschnut und Pinocchio zugleich auf den Eindringling. Alle drei kitzelten den Bösewicht gleichzeitig am Hals, in der Nase und an den Ohren. Seppel zupfte an den langen Borsten, die aus den Ohren des Räubers wuchsen. Der versuchte natürlich die Plagegeister abzuschütteln.
Wenzel saß im Bett und zog die Decke bis zur Nase hoch.
Der Einbrecher drehte sich und wand sich.
Plötzlich rief die Großmutter: “Kasper, jetzt!“
Im gleichen Moment, als der Bösewicht sich zu Kasper drehte, schlug dieser mit der Bratpfanne so kräftig zu, dass der Feind zu Boden ging. Er ließ die Kerze fallen und verlor seinen Schlapphut. Ebenso schnell, wie ihm am Hinterkopf eine Beule wuchs, kroch er auf allen Vieren aus dem Haus. Der Feuerwehrmann löschte mit seiner Wasserpistole die Kerze aus, dann war alles ruhig.
Als Wenzel am Morgen erwachte, lag ein Kerzenstummel am Boden. Sein Fagott aber stand auf seinem Platz in der Ecke.
„War hier heute Nacht ein Einbrecher oder habe ich das geträumt?“
„Wer will das schon so genau wissen?“, kam die Antwort leise aus dem Puppenregal.
Es war wohl die Stimme der Großmutter, aber wer will das schon so genau wissen. Von da an stellte Wenzel sein Fagott abends immer direkt neben sein Bett. Vor dem Schlafengehen ging er zweimal um sein Haus herum und schloss die Tür dreimal ab.
Als der Sommer zu Ende ging, fuhr eine mit Silber beschlagene Kutsche vor das Puppenmacher-Haus.
Zwei Männer in reich verzierten Uniformen stiegen aus und gingen gleich hinein zu Wenzel: „Der König schickt uns. Wir sollen dich abholen und zu ihm bringen. Er hat von dir und deinem Wunder-Instrument erfahren und will es hören. Pack deine Sachen zusammen und komm mit! Sofort!“
Wenzel erschrak. An dem Ton und den Gesten der beiden Männer merkte er aber sofort, dass er tun musste, was sie verlangten. Nach kurzer Zeit rumpelte die Kutsche mit ihm davon.
Zwei Stunden später erreichten sie das Schloss. Er wurde sofort zum König geführt: „Na, mein lieber Wenzel, von dir habe ich ja tolle Sachen gehört. Ein Fagott sollst du haben, mit eigenen Händen geschaffen, und spielen kann es von ganz allein. Dann lass mal hören!“
Wenzel packte sein Fagott aus, und mit Händen, die vor Aufregung zitterten, nahm er sein Instrument in den Arm. Er hatte bisher kein Wort gesprochen, weder zu den Boten noch zum König. Vorsichtig blies er seinen Atem in das Instrument, und sogleich begann es zu singen. Tief und warm erklang es. Der König staunte. Mit offenem Mund hörte er zu. Er glaubte einen Bach murmeln zu hören, oder den Wind, wenn er ein Lied erzählt. Wenzel wurde nun langsam munterer.
Er blies kräftiger, die Töne wurden höher. Der König glaubte, die Geister des Waldes zu hören. Er setzte sich auf den Thron und ließ Wenzel und das Fagott nicht aus den Augen, besser gesagt nicht aus den Ohren. Ganz allmählich klang das Lied aus.
„Wunderbar, einfach wunderbar!“, rief der König begeistert, „Wenzel, du wirst Hofmusikus!“
Diener kamen und brachten ihn und sein Fagott in ein Zimmer.
„Hier wohnst du jetzt“, sagte der Diener und zeigte auf verzierte Schränke, ein breites bequemes Bett und seidene Vorhänge.
„Hier lässt es sich leben“, dachte Wenzel und machte es sich gemütlich.
Jeden Tag gab er dem König und seiner Familie ein Konzert, meist allein, aber manchmal auch mit anderen Musikern gemeinsam.
Der König war stets begeistert und lobte Wenzel und seine Musik über alles.
Nach ein paar Wochen wurde die Musik oft traurig, manchmal richtig zum Weinen.
„Was ist mir dir, oder was ist mit dem Fagott? Ich möchte fröhliche Musik hören!“, stellte der König Wenzel zur Rede, „Irgendetwas ist anders geworden. Warum? Geht es dir nicht gut hier in meinem Schloss?“
„Ja, nein…“, druckste Wenzel herum, „es ist wunderbar hier am Königshof, es fehlt mir an nichts, aber trotzdem fehlt mir etwas.“
„Was soll das denn sein, es fehlt nichts, aber trotzdem fehlt es?“, fragte der König nach.
„Ich vermisse eben meine Puppen und möchte so gerne mal wieder eine Marionette schnitzen. Und die Puppenspieler suchen mich auch ganz bestimmt. Sie möchten auch meine Musik hören.“
„Ja, wenn das so ist“, brummte der König ziemlich nachdenklich, „ich habe eine Idee. Du kannst zurück nach Hause fahren. Meine Diener holen dich jeden Freitag ins Schloss und am Montag bringen sie dich wieder zurück. Solange du hier bist, spielst du für mich.“
Das gefiel Wenzel. Über einige Monate wurde er in der königlichen Kutsche hin- und hergefahren, gab seine Konzerte und ging zwischendurch
seiner gewohnten Arbeit nach.
Im Frühjahr gab es eine Überraschung. Der König hatte ein Haus bauen lassen, extra für Wenzels Konzerte. Es war so groß, dass viele Menschen darin Platz hatten. Einmal in jedem Monat spielte Wenzel jetzt nicht allein für die königliche Familie, sondern vor einem riesengroßen Publikum aus nah und fern. Er war sehr stolz darauf.
Wenzel lebt schon längst nicht mehr, aber diesen Konzertsaal, den gibt es noch heute. Wenn man ganz, ganz leise ist, kann man dort manchmal sein Fagott hören.